Ellen, eine chronisch überforderte Mutter in
Erwartung ihres zweiten Kindes erhält eines
Tages einen seltsamen Anruf. Eine Mappe wäre für
sie abzuholen, in einem Dorf, das sie aus losen Erinnerungsfragmenten
noch aus ihren Kindertagen
kennt. Sie begibt sich auf den Weg, um festzustellen,
dass der Anruf gar nicht ihr, sondern ihrer
kürzlich verstorbenen Mutter galt. Mysteriöse Erzählungen
über einen kleinen Bruder, von dessen
Existenz sie nichts wusste, verunsichern sie und
lassen sie Schritt für Schritt näher in die Geheimnisse
ihrer Familie eindringen. Die Geschichte um
die Vergangenheit ihrer Mutter lässt sie beklommen
die eigenen Erinnerungsspuren ihrer Kleinkindtage
lichten.
Spannend wie ein Krimi lässt die Autorin in ihrem
ersten Roman „Wasserblau“ die Figuren lebendig
und facettenreich eine geheimnisvolle Familiengeschichte
erzählen. Die Ereignisse, die das ganze Leben
einer Familie verändern können und wie ein
Schatten in der nächsten Generation Gegenwart
bleiben. Eine Erzählung, die nicht immer alles erzählt,
und der Leserin die Freiheit lässt, manches
selber zu Ende zu denken, was es zu einer faszinierenden
und tiefgründigen Lektüre macht. Regina Musalek
Monika Goetsch: Wasserblau. Roman. 238 Seiten, Dörlemann
Verlag , Zürich 2010 EUR 19,50
Zwei Frauen, zwei unterschiedliche Welten
und Lebensanschauungen, ein wichtiges politisches
Thema: Die Frage nach den Rechten der
KurdInnen in der Türkei.
Nevra, eine westlich orientierte türkische Journalistin
und Zeliha, eine inhaftierte kurdische Aktivistin
sprechen während eines Interviews nicht nur
über die Geschichte der KurdInnen in der Türkei,
sondern auch über ihr Privatleben und kommen
erst im Laufe des Gesprächs darauf, dass sie eine gemeinsame
Vergangenheit haben. So entwickelt sich
das Interview zu einem Dialog zwischen zwei unglücklichen
Frauen.
Die Kurdenproblematik in der Türkei wird in diesem
Roman sehr klischeehaft behandelt. Kulin stellt
die beiden Frauen hierarchisch dar: Auf der einen
Seite die gut ausgebildete und moderne Nevra, auf
der anderen Seite die von Traditionen unterdrückte
Zeliha, die keine Ausbildung genießen durfte.
Kulin behandelt in ihrem Roman das Tabuthema
leider nicht sehr ausführlich. Die wahren Gründe,
warum das kurdische Volk in der Türkei seit Jahrzehnten
kämpft, werden nicht thematisiert. Ihr Appell,
Konflikte nicht mit Gewalt sondern durch einen
gegenseitigen Dialog zu lösen, ist jedoch lobenswert. Hülya Tektas
Ayse Kulin: Der schmale Pfad. Roman. Übersetzt von
Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch. 280 Seiten, Unionsverlag,
Zürich 2010 EUR 20,50
Bei allem Respekt vor der Heimatlosigkeit ehemaliger
Gesamtjugoslaw/inn/en und dem Leben
in verschiedenen Sprachen: Der neue Roman
von Marica Bodrožić gibt sich klug, ist aber leider
eine Mixtur etwas abgeschmackter Lebensweisheiten
zu Liebe, Erinnerungsarbeit und Nomadentum.
Die Ich-Erzählerin Nadeshda, ehemalige Physikerin,
erinnert ihr Verhältnis mit dem ungreifbaren
Schriftsteller Ilja, der seinerseits glücklich verheiratet
ist. Er sei aufgetaucht wie Bretons Nadja, besitze
den „Schlüssel“ zu Nadeshda, spreche zwölfeinhalb
Sprachen und er wird darüber hinaus mit jüdischen
Wurzeln ausstaffiert. Ähnlich geheimnisvoll,
aber weniger charmant, der leibliche Vater als
zweite Imago: ein Libellentöter und Kinderschänder.
Erinnerungen an diesen und jenen und an Ex-
Jugoslawien, diverses Großstadtflair von Amsterdam,
Paris, Berlin und Chicago, dazu eine treue
Freundin „mit diesem Sarajevo-Blick, der keinen
Widerspruch duldet“ und ein ausgebautes name
dropping von schreibenden Größen – das sind die
Ingredienzien dieses Romans. Hinzu kommt die
Unverfrorenheit, etwa von einem Iljaland zu sprechen,
von der Kraft der Gerüche, Erinnerung zu
evozieren, von der Geometrie der Liebe oder Nadeshdas
mathematischem Erfassen der Welt, als
würde die Literaturgeschichte eben erst beginnen.
Und man befürchtet alsbald zu Recht, dass auch
das Wort Marina Zwetajewas, wonach alle Dichter
Juden sind, auf den letzten Seiten noch ausgespielt
wird. Nun: „Wie Vögel flogen Geheimnisse und
Wahrheiten mir nur so um die Ohren...“. Möge der
Roman geneigtere Leser/innen finden! Edith Futscher
Marica Bodrožić: Das Gedächtnis der Libellen. Roman.
253 Seiten, Luchterhand Literaturverlag, München 2010
EUR 20,60
Als Zehnjährige flieht die Autorin Kim Thúy
aus der Sozialistischen Volksrepublik Vietnam
in den Westen. Aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit
fühlte sich die Tochter reicher Eltern nie als
„geliebtes Kind der Partei“, während die Familie in
Kanada warmherzig aufgenommen wird. Die Kommunisten
entblößen sich in jedem Aufeinandertreffen
als ungebildete, unehrenhafte Tölpel, halten sie
doch französische, in Seidenpapier aufbewahrte
Spitzenbüstenhalter für Kaffeefilter und stehlen der
Großmutter ihre Diamanten und Spitzenschals. Die
amerikanischen GIs hingegen suchen „den Trost
menschlicher Wesen“, den sie von den „stundenweise
gemieteten Frauen“ bekommen, „um für einen
Augenblick nicht in jeder Kinderhand, die ihre
behaarten Arme berührte, eine Granate zu vermuten“.
Der Roman thematisiert widersprüchliche
Erfahrungen und lässt sie einfach nebeneinander
stehen. So scheinen die „Schmollmünder“, die den
GIs „falsche Liebesschwüre“ ins Ohr flüstern, nichts
mit Thúys kleinen Cousins gemein zu haben, die
für ein Essen „Männer masturbieren“. Sprachlich
sehr schön geschrieben, lässt die Autorin in der Erzählung
des Schicksals ihrer Familie interessante
Zwischentöne zu. Andererseits reiht sich der Roman
plakativ und wenig überzeugend dargebracht
in die aktuelle Flut kommunismuskritischer Geschichten
ein. Doris Allhutter
Kim Thúy. Der Klang der Fremde. Roman. Übersetzt
von Andrea Alvermann und Brigitte Große. 158 Seiten, Antje
Kunstmann Verlag, München 2010 EUR 15,30
Estland – längst EU-Mitglied, beliebter werdendes
Reiseziel und doch auch unbeschriebenes
Blatt, was unser Wissen über seine Geschichte
angeht. Diesbezüglich bringt Sofi Als Zehnjährige flieht die Autorin Kim Thúy
aus der Sozialistischen Volksrepublik Vietnam
in den Westen. Aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit
fühlte sich die Tochter reicher Eltern nie als
„geliebtes Kind der Partei“, während die Familie in
Kanada warmherzig aufgenommen wird. Die Kommunisten
entblößen sich in jedem Aufeinandertreffen
als ungebildete, unehrenhafte Tölpel, halten sie
doch französische, in Seidenpapier aufbewahrte
Spitzenbüstenhalter für Kaffeefilter und stehlen der
Großmutter ihre Diamanten und Spitzenschals. Die
amerikanischen GIs hingegen suchen „den Trost
menschlicher Wesen“, den sie von den „stundenweise
gemieteten Frauen“ bekommen, „um für einen
Augenblick nicht in jeder Kinderhand, die ihre
behaarten Arme berührte, eine Granate zu vermuten“.
Der Roman thematisiert widersprüchliche
Erfahrungen und lässt sie einfach nebeneinander
stehen. So scheinen die „Schmollmünder“, die den
GIs „falsche Liebesschwüre“ ins Ohr flüstern, nichts
mit Thúys kleinen Cousins gemein zu haben, die
für ein Essen „Männer masturbieren“. Sprachlich
sehr schön geschrieben, lässt die Autorin in der Erzählung
des Schicksals ihrer Familie interessante
Zwischentöne zu. Andererseits reiht sich der Roman
plakativ und wenig überzeugend dargebracht
in die aktuelle Flut kommunismuskritischer Geschichten
ein. Oksanen,
Tochter einer Estin und eines Finnen, einige
Klarheit – weniger vielleicht was das Faktische betrifft,
dafür umso eindrücklicher was Emotionen,
Gesellschaftsstrukturen und politisches Klima anbelangt.
Wechselnde Regime – Unabhängigkeit,
deutsche und russische Besatzung, Eingliederung
in die UdSSR, dann wieder Unabhängigkeit – prägten
das 20. Jahrhundert. Was das für die Menschen
hieß, vor allem wenn sie sich politisch engagierten,
liest sich in diesem Roman mit. Gerade die Rollen
und Positionen, die Frauen aufgezwungen bzw. zugestanden
wurden, werden deutlich. In Aliide und
Zara treffen Großmütter- und Enkelinnengeneration
aufeinander. Beide haben die extremen Erfahrungen
ihrer Zeit gemacht – die eine gefoltert und
vergewaltigt, weil sie einen Partisanen versteckte.
Die andere aufgewachsen mit einer Mutter, die als
Kind Folter und sibirische Lager überlebte, wird als
Zwangsprostituierte in den Westen verschleppt.
Dass zwischen den beiden Frauen eine verwandtschaftliche
Verbindung besteht, die durch Verrat
und Schuld geprägt ist, spannt den inhaltlichen Bogen.
Die im Klappentext gemachte vereinfachende
Feststellung: „Egal, welches politische System auch
herrscht, Opfer sind immer die Frauen“, wird dem
Roman – zum Glück – nicht gerecht. Die Autorin
entwickelt ihre Geschichte und Charaktere differenzierter.
Aliide etwa ist eine äußerst komplexe
Persönlichkeit, deren Motive teilweise rätselhaft
bleiben; aber gerade das macht sie auch authentisch.
Ein Roman, der seine vielen Preise absolut
verdient hat. Est
Sofi Oksanen: Fegefeuer. Roman. Übersetzt von Angela
Plöger. 396 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010
EUR 20,60
Valerie Solanas, die nach eigenen Angaben die
einzige Frau ist, die nicht verrückt ist, schoss
im Juni 1968 in NYC auf Andy Warhol und verletzte
ihn lebensgefährlich. Doch welche Erfahrungen,
Eindrücke und Erinnerungen lösten den
Wunsch in ihr aus, den Künstler, den Mann zu töten?
In ihrem Roman „Traumfabrik“ beschreibt Sara
Stridsberg eine literarische Phantasie, die auf
dem Leben und Werk von Valeria Solanas beruht,
genauer auf Fakten, Textbausteinen, Gesprächen,
Gerüchten. Diese teilweise verstörenden und auf jeden
Fall mitreißenden Einblicke in Valerie Solanas
Vorstellungen unterstützen das Bild von einer
hochbegabten Schriftstellerin, die unter Verfolgungswahn
leidet sowie tabletten- und alkoholabhängig
ist. Sie bilden zugleich den bedingungslosen
Kampf einer radikalen Feministin ab, die ab dem
Ende der 1950er Jahre ihre Vision einer männerfreien
Gesellschaft in die Welt trägt. Die Verfasserin
des Manifests SCUM (Society for Cutting Up Men)
grenzt sich dabei strikt von den „Daddy’s Girls“ ab,
die zu dieser Zeit auf den Straßen NYCs und anderswo
für ihr Recht auf Abtreibung demonstrieren
und ihre Unterwäsche verbrennen: Valerie Solanas
kämpft für das Ende der allgegenwärtigen Männerherrschaft
und träumt von der Zukunft, einer Frauenbewegung
und davon, die erste Präsidentin von
Amerika zu werden. Grit Höppner
Sara Stridsberg: Traumfabrik. Roman. Übersetzt von
Ursel Allenstein. 327 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main
2010 EUR 22,60
„Sie haben doch alleswirdbesser@gmx.at nicht
zufällig ausgewählt“, liest die in Wien lebende
Luise, kurz Lu, in einer E-Mail, gesendet von noone@
hotmail.com, einer Lu fremden Person, die eines
Nachts damit beginnt, ihr zu schreiben. Beide
AbsenderInnen lassen zunächst vermuten, dass
hier zwei unterschiedliche Personen, mit nicht nur
verschiedener Sprach-, sondern auch Lebensgestaltung,
aufeinander treffen. Zunächst irritiert von den
E-Mail-Nachrichten, entwickelt sich im Laufe des
Romans ein intensiver Austausch zwischen Lu und
No one. Mit Rückblicken auf ihre Kindheit entwickelt
sich nach und nach das Bild einer jungen
Frau, deren Leben, nach einer von den psychischen
Problemen der Mutter und der Flucht des Vaters
aus dem gemeinsamen Familienleben geprägten
Kindheit, zwischen einem öden Job, einer noch
nicht fertig gestellten Masterarbeit und der krisenhaften
Affäre mit einem Anwalt so dahin plätschert.
Die Ungewissheit, wer sich hinter den – meist in
der Nacht verfassten – Nachrichten verbirgt, lässt
in Lu das Bild eines einsamen alten Mannes mit ungepflegtem
Bart und Schnürlsamthose entstehen.
Bis zur Offenlegung der Identität von No one lässt
Silvia Pistotnig dabei auch Raum für eigene Gedankenspiele.
Die einfache Rahmengeschichte bildet einen guten
Kontrast zu dem immer persönlicher werdenden
Briefwechsel von No one und Lu und verdeutlicht
nebenbei, wie sehr alltägliche Beziehungen durch
die Filter elektronischer Medien geführt werden. Annika Sominka
Silvia Pistotnig: Nachricht von Niemand. Roman. 236
Seiten, Skarabaeus Verlag, Innsbruck/Bozen/Wien 2010
EUR 19,90
Schonungslos erzählt Lydia Mischkulnig die
Geschichte von Renate und Marie. Die Beziehung
der beiden Schwestern spitzt sich im Laufe
der Jahre immer weiter zu: So kann Renates Verlangen
nach dauerhafter Überwachung von Marie
nur per Gerichtsbeschluss eine Zeitlang gebremst
werden, ihre Eifersuchtsattacken äußern sich zum
Beispiel in einem körperlichen Übergriff, bei dem
die geliebt-verhasste Schwester mit Hilfe von Kleister
mit dem Objekt der eigenen Begierde an den
Lippen zusammenklebt. Renates wachsende Wut
darüber, von Marie nicht (mehr) beachtet zu werden
und deren Vergessen ihrer (einstigen) emotionalen
Bindung bringt sie schließlich in Form menschenunwürdiger
Quälerei zum Ausdruck.
Die unzähligen Beispiele für Renates reichhaltiges
Repertoire an Praktiken körperlich verletzender
und psychisch demütigender Bosheiten anderen
Menschen gegenüber machen es schwer, ihre
Schreie nach Freundschaft, Treue, Liebe und Dankbarkeit
anzuerkennen oder für diese gar Mitleid zu
empfinden. Grit Höppner
Lydia Mischkulnig: Schwestern der Angst. Roman.
248 Seiten, Haymon Verlag, Innsbruck 2010 EUR 17,90
Die Erzählungen der argentinischen Schriftstellerin
Elsa Osorio sind zum Teil während
der Militärdiktatur, teils auch lange nach der Zeit
der politischen Zensur entstanden. Die Geschichten
setzen sich demnach manchmal bildhaft, und
später auch explizit damit auseinander, wie Menschen
in ihrem alltäglichen Leben mit den Pathologien
des faschistischen Regimes umgehen. Das
Spannende an Osorios Texten ist, dass sie weniger
persönliche Schicksale ausschlachten, als vielmehr
durch die Erlebnisse und Bewältigungsstrategien
ihrer ProtagonistInnen beschreiben, wie sich Verfolgung,
Folter und das Verschwinden von Freund-
Innen und Verwandten systematisch auf eine Gesellschaft
auswirken. Dabei schreibt sie ebenso
glaubhaft aus der Perspektive von Menschen, die
sich im Widerstand organisieren, wie aus der Sicht
von Verrätern und jener, die einfach nur versuchen,
unbeschadet davon zu kommen. Klarerweise sind
nicht alle von ihnen SympathieträgerInnen. Aus einer
Geschlechterperspektive insbesondere die beiden
Männer, deren Beziehung sich in einer der Geschichten
darüber herstellt, wie viele Frauen sie
(nicht) „gehabt haben“. Das fand ich zwar etwas ärgerlich,
grundsätzlich hat mich aber beeindruckt,
dass die Subjektivität von Osorios Figuren nicht ins
Individualistische kippt und damit politisch bleibt. Doris Allhutter
Elsa Osorio. Sackgasse mit Ausgang. Erzählungen.
Übersetzt von Stefanie Gerhold. 149 Seiten, Suhrkamp Verlag,
Berlin 2010 EUR 10,20
… wie wichtig es ist zu schweigen.“ Die siebenjährige
Laura weiß, dass die größte Gefahr
bei einem Autounfall das mögliche Auftauchen der
Polizei ist: Die gefälschten Papiere sind noch nicht
fertig, das Auto gestohlen. Wenn sie abends von ihrer
Großmutter nach Hause gebracht wird, dreht
sie sich immer wieder um, sie ist auf der Hut. Laura
versteht, dass sie nach der Verhaftung ihres Vaters
untertauchen müssen. Und sie hat versprochen
zu schweigen, selbst wenn man ihr weh tut, sie mit
einem Bügeleisen verbrennt oder ihr kleine Nägel
ins Knie schlägt.
Schon vor dem Militärputsch 1976 verschwinden
in Argentinien politische AktivistInnen. Familien
werden ausgelöscht, andere fliehen ins Ausland
oder in die Illegalität. Mit den direkten, schnörkellosen
Worten des Kindes vermittelt die Autorin eindrucksvoll,
dass in Lauras Kindheit für Kindlichkeit
kein Platz ist. Ihre Träume von rosa Prinzessinnenschühchen
und einem „ganz normalen“ Leben sind
unerfüllbar. Stattdessen macht sie in der Illegalität
unverzeihliche Fehler und kotzt ihrem Vater beim
Besuch im Gefängnis in sein Ohr. Sie ist der Lage
nicht gewachsen.
„Das Kaninchenhaus“ ist die berührende Geschichte
eines kleinen Mädchens, das in einem heimlichen
Krieg aufwächst. Dem von der nunmehr erwachsenen
Autorin geäußerten Wunsch „zu vergessen“,
kann frau dennoch nicht stattgeben. Auch
für die ungesühnten Verbrechen der argentinischen
Militärs gilt: Niemals Vergessen, niemals Vergeben! Dunja Chinchilla
Laura Alcoba: Das Kaninchenhaus. Roman. Übersetzt
von Angelica Ammar. 119 Seiten, Insel Verlag, Berlin 2010
EUR 15,40
„A Terrible Matriarchy“ lautet der englische
Originaltitel dieses Entwicklungsromans. Und
naja …, ja. Ohne Zweifel hat die Großmutter in der
Familie der Ich-Erzählerin Dielieno das Sagen und
stützt sich dabei auf die Tradition der vorwiegend
in Nordindien angesiedelten Naga-Gesellschaft.
Traditionen, die sich langsam selbst überholen.
Doch noch muss die sechsjährige Dielieno zur
Großmutter ziehen, um dieser im Haushalt zu helfen
und zu lernen was eine „gute Frau“ ausmacht,
damit sie auch geheiratet wird. Grimmige Aussichten
für Dielieno, ist sie für ihre Großmutter doch
nur „das Mädchen“. Eine Ansicht, die für Dielieno
schon früh nicht nachvollziehbar und vor allem ungerecht
ist und der sie beharrlich, auf ganz eigene
Weise Widerstand entgegensetzt. Mit jugendlicher,
unprätentiöser Stimme lässt die Autorin ihre
grundsympathische Heldin vom Aufwachsen in einer
Gesellschaft im Wandel erzählen und von denen,
die diesen Wandel nicht mehr erkennen können.
Eine Geschichte, die trotz aller Widrigkeiten
optimistisch stimmt. bw
Easterine Iralu: Tage des Zorns. Roman. Herausgegeben
von Städte der Zuflucht - International Cities of Refuge
Network. Übersetzt von Mayela Gerhardt. 328 Seiten, Brandes
& Apsel, Frankfurt/Main 2010 EUR 25,60
Christa Wolfs neuer Roman ist zum Teil autobiografisch,
zuerst durchwebt mit Facetten
deutscher Geschichte, später, nachdem sich die
Ich-Erzählerin Anfang der Neunziger auf Einladung
des Getty Centers in Los Angeles befindet, mit amerikanischen
zeitgeschichtlichen sozialen Eindrücken.
Als roter Faden dienen ein literarisches
Forschungsprojekt und die dadurch stattfindenden
Begegnungen mit anderen Kulturschaffenden. Es
geht darum, Briefe, die aus dem Nachlass ihrer verstorbenen
antifaschistischen Freundin Emma stammen,
mit der Absenderin L zusammenzuführen, die
im Nationalsozialismus in die USA ausgewandert
ist. Der Roman zeichnet eine von Selbstzweifeln geplagte
Ich-Erzählerin, die sich nach Auflösung der
DDR unter anderem durch Angriffe von JournalistInnen,
die ihre vormalige Stasitätigkeit aufdecken,
zutiefst verletzt fühlt. Es wird ihr klar, dass sie vor
allem sich selbst durch ihre Tätigkeit geschadet hat.
Heldinnengeschichtsschreibung steht nicht im Mittelpunkt,
sondern dass das menschliche Leben
auch aus unterschätzten Fehlhandlungen besteht.
Der durch die vorgehaltene Vergangenheit ausgelöste
reflexive Prozess reift fast zur Identitätskrise.
Durch das vorgestellte politische Patchwork-Leben
wird die Ich-Erzählerin dennoch zur Sympathieträgerin,
indem sie nicht als übermenschlich stilisiert
wird, sondern sich die eigenen inneren Zweifel und
Brüche eingestehen kann – und gerade das macht
ihre Gedanken vertraut. Antonia Laudon
Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of
Dr. Freud. Roman. 415 Seiten Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
EUR 23,50
Manazuru. Ein Tagebucheintrag und zugleich
der Name eines Fischerdorfs unweit von Tokio.
Das Tagebuch von Rei, Keis Ehemann, der vor
dreizehn Jahren verschwunden war. Die inzwischen
sechzehnjährige gemeinsame Tochter Momo
entdeckt gerade ihre Eigenständigkeit und Kei, von
der Angst vor dem Verlust geplagt, sieht sich
zurückgeworfen auf die Frage nach einer Erklärung
für Reis Verschwinden. Auf der Suche nach einer
Antwort zieht es sie immer wieder nach Manazuru.
Dort bewegt sie sich durch eine andere Wirklichkeit,
begleitet von einer Frau, die, je weiter Kei sich
vorwagt, immer mehr Form annimmt und als Bindeglied
fungiert, zwischen Realität und der traumhaften
Wahrnehmung, die Kei in Manazuru erlebt.
Letztendlich erhält Rei nur halbe Antworten, erkennt
aber, dass ihre Fähigkeit, eine andere Wirklichkeit
zu erleben sie auch daran hindert, das Naheliegende
zu sehen. Der sanfte, kühle Tonfall dieser
Liebesgeschichte ist so gelungen, dass es
manchmal notwendig scheint, nur ganz vorsichtig
umzublättern. bw
Hiromi Kawakami: Am Meer ist es wärmer. Eine Liebesgeschichte.
Roman. Übersetzt von Ursula Gräfe und Kimiko
Nakayama-Ziegler. 208 Seiten, Carl Hanser Verlag, München
2010 EUR 18,40
Die Autorin Gunnhild Øyehaug hatte mit
ihrem ersten Roman „Ich wär gern wie ich bin“
in Norwegen gleich durchschlagenden Erfolg. In
mehreren Erzählsträngen begleitet sie ihre ProtagonistInnen
durch das heutige Norwegen und seine
Kreativszene: da ist die Literaturstudentin Sigrid,
die mit ihren hochtrabenden Gedanken oft ganz allein
bleibt. Als sie zufällig dem Autor Kåre begegnet,
der sich gerade von seiner Freundin getrennt
hat, glaubt sie endlich jemanden gefunden zu haben,
der sie versteht. Doch Kåre hat seine Vergangenheit
noch nicht abgeschlossen. Dann ist da die
angehende Filmemacherin Linnea, die auf ein Wiedersehen
mit Göran hofft, mit dem sie bei einer
kurzen leidenschaftlichen Begegnung ein romantisches
Wiedersehen am selben Ort, am selben Tag
nur zwei Jahre später vereinbart hat. Und dann ist
da auch noch Trine, die sich nach der Geburt ihrer
Tochter auch als (Performance)Künstlerin neu erfinden
muss.
Schon in den ersten Zeilen „Hier sehen wir Sigrid.
Es ist neun Uhr morgens, es ist Januar, und es ist
das Licht im Januar 2008.....“ begegnet uns die distanziert
beschreibende Erzählhaltung; der Text
liest sich teilweise wie Regieanweisungen. Tatsächlich
ist er voller Filmzitate, die von den ProtagonistInnen
auch kommentiert werden. So schreibt Sigrid
etwa an einem Aufsatz, der der Frage nachgeht,
was es mit dem in vielen Filmen wiederkehrenden
Bild einer Frau in einem viel zu großen Herrenhemd
auf sich hat, warum stecken diese Filmfiguren
verletzlich, mädchenhaft mit nackten Beinen in
diesen Hemden? An anderer Stelle trennt sich ein
Paar wegen eines Streits über das Frauenbild im
Film „Kill Bill 2“. Auch intertextuelle Bezüge zum
Beispiel zu Dantes „Göttlicher Komödie“, Kafkas
„Schloss“ oder norwegischer Lyrik sind tragend.
Das alles klingt kompliziert und etwas abgehoben,
wie der große Publikumserfolg in Norwegen zeigt,
funktioniert der Roman aber auch mit unterschiedlichem
Backgroundwissen. Bleibt nur abzuwarten,
wie das deutschsprachige Publikum reagiert. Est
Gunnhild Øyehaug: Ich wär gern wie ich bin. Roman.
Übersetzt von Ebba D. Drolshagen. 272 Seiten, Suhrkamp,
Berlin 2010 EUR 14,30
Die Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte
des Libanon, insbesondere des Bürgerkriegs,
findet in Marjams Geschichten auf privater
Ebene statt. Geschichten, in denen es oft um
Niederlagen geht und die dadurch, dass sie im Alltäglichen
stattfinden, ein vielseitiges Bild von den
kriegsbedingten Veränderungen in der libanesischen
Gesellschaft zeigen. Marjam fungiert dabei
als Chronistin all derer, die verstummt sind. Erzählt
wird von Frauen wie Ibtisâm, einst Revolutionärin,
die sich in eine zutiefst konventionelle Ehe mit
Dschalâl fügt, der sich großzügigerweise nicht an
ihrer fehlenden Jungfräulichkeit stört, sie diesen
„Makel“ jedoch nach der Hochzeit durchaus spüren
lässt. Oder von Marjams Mutter, Fatima, die als
Zehnjährige mit dem nur wenige Jahre älteren Hassan
verheiratet wird und die achtzehn Schwangerschaften
später nur noch Verachtung für ihn übrig
hat, der sie auch lautstark Ausdruck verleiht. Gewalt
ist immanent, die Gewalttätigkeit des Krieges
setzt sich in den Beziehungen der Frauen unmittelbar
fort und so gibt Marjam Einblicke in die Leben
von Frauen, die den Geschmack von Selbstbestimmung
erfahren haben, aber letztendlich scheitern
und sich in die Konformität zurückziehen. Hier
werden keine Geschichten aus tausendundeiner
Nacht erzählt und gerade deshalb absolut lesenswert. bw
Alawiyya Sobh: Marjams Geschichten. Roman. Übersetzt
von Leila Chammaa. 474 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin
2010 EUR 35,–
Als Studentin besucht sie Lehrveranstaltungen
wie „Die amerikanische Familie am Ende des
20. Jahrhunderts: Dysfunktion, was ist deine Funktion?“
oder „Dysfunctionalia: Romane vergeudeter
Jugend“. Immer schon hat Linda Hammerick eine
Gabe, die sie von anderen Menschen unterscheidet:
Sie kann Wörter schmecken. Der Name ihrer Jugendfreundin
Kelly zum Beispiel schmeckt nach
Dosenpfirsichen, der ihres Onkels und eines der
wichtigsten Menschen in ihrem Leben, Baby Harper,
nach Honig. Ihre Gabe verhindert allerdings,
dass sie sich in der Schule konzentrieren kann und
da helfen nur Alkohol und Zigaretten, um den Geschmack
der Worte abzutöten. Auch Erinnerungen
sind verknüpft mit detaillierten Geschmäckern –
nur ihre frühe Kindheit ist lediglich „bitter im
Mund“.
Monique Truong erzählt die Suche einer jungen
Frau nach sich selbst, nach ihrer Vergangenheit,
nach ihrer Familiengeschichte, geprägt von Enttäuschungen,
die schmecken wie leicht verbrannter
Toast, und nicht zuletzt nach ihrer Rolle als Frau in
einer Gesellschaft, in der Männer „kaputte Frauen
durch heile“ ersetzten. Linda ist keine kaputte Frau
mit einer Dysfunktion, Linda ist eine Frau mit einer
besonderen Gabe. vab
Monique Truong: Bitter im Mund. Übersetzt von Peter
Torberg. 327 Seiten, C.H. Beck, München 2010
EUR 20,60
Wunderbar absurde Briefe voller Liebe schreiben
sich die Lehrerin Anna und der Journalist
Piotr. Anna lässt ihre SchülerInnen Aufsätze zum
Thema Sterne schreiben, „um den Kindern eine Gelegenheit
zu geben ein bisschen zu träumen. … je
absurder der Inhalt, umso besser die Note. Da wird
auch auf Grammatik keine Rücksicht genommen.
Wen kümmert Grammatik in der Ukraine?“. Ein
Motto, das sich in den Briefen der beiden fortsetzt,
da gibt es kaum einen Aspekt in Annas an sich beschaulichem
Leben, der nicht aus einer verzauberten
Welt zu kommen scheint. Und darin steht ihr
Piotr um nichts nach, dessen Briefe aus Bagdad
vom „bombastischen Feuerwerk“ des Artilleriebeschusses
berichten. Ein Anschreiben gegen die Einsamkeit
und die Sehnsucht, in der die beiden ihre
Wirklichkeit immer gerade so aussehen lassen, dass
es genauso viel Vergnügen bereitet zu weinen wie
zu lachen. bw
Marjana Gaponenko: Annuschka Blume. Roman. 256
Seiten, Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg 2010
EUR 21,90
„Jeder hat natürlich seinen Fahrschein mitgenommen,
als er aus dem Zug stieg. Und so habe
ich keinen Beweis dafür, dass Òblak, Bettina,
Marilena, Hannes und Ina wirklich existieren …“
Und doch hinterlassen sie alle auf der Eurocity
Strecke Rom-Wien ihre kleinen, feinen Geschichten.
Bei Òblak hat die wiederholte Lektüre der
„Auslöschung“ ihre Spuren hinterlassen. Mur wäre
fast als Mädchen zur Welt gekommen, hätte sich
seine Mutter vor seiner Geburt ans andere Ufer des
Flusses gerettet. Ein fehlendes Transitvisum zwingt
Maria einen Umweg und ein Gespräch mit einer
Grenzschriftstellerin auf. Und so entsteht eine
Sammlung von Betrachtungen rund um den und
am Grenzraum. Lisbeth Blume
Kenka Lekovich: Der Zug hält nicht in Ugovizza. 12
Grenzgeschichten und eine. Erzählungen. Übersetzt von Sepp
Mall. 92 Seiten, Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec 2010
EUR 12,80
Rücksichtslosigkeit, Eigensucht, Gewissenlosigkeit
und Durchsetzungsvermögen sind Eigenschaften,
die der Ich-Erzählerin Rosalinda ohne
Zweifel zuzuschreiben sind und die es ihr ermöglichen,
mit sturer Pragmatik ihre Vorstellung davon,
wie sie und ihre Familie das Leben zu meistern haben,
durchzusetzen. Dass sie dabei nicht immer liebenswert
ist, versteht sich von selbst. Etwa wenn
ihre siebzehnjährige Tochter Sulfia ihr eröffnet, dass
sie schwanger ist und Rosalinda erst einmal überlegt,
„was sie jetzt noch für ihre Zukunft und meinen
Ruf tun konnte“. Doch trotz heißer Senfbäder,
Lorbeertränken und Stricknadeln kommt die Enkelin
Aminat zur Welt, und Rosalinda zieht in den
Kampf, um fortan auch das Leben Aminats zu bestimmen.
Rücksicht nimmt sie dabei nur auf ihre
eigenen Ziele und, um diese zu erreichen, scheut
sie auch nicht davor zurück, den pädophilen Koch
Dieter mit der inzwischen pubertierenden Enkelin
zu ködern: er soll es der Familie ermöglichen, den
russischen Plattenbau hinter sich zu lassen. Bronsky
gibt ihrer Heldin eine amüsante Stimme, eine
flapsige Direktheit, die nicht immer über die Abgründe
ihrer Winkelzüge hinweghelfen kann, jedoch
als Kniff funktioniert, der es der Leserin ermöglicht,
in einigen, abgezählt wenigen Momenten
auch Sympathie für Rosalinda zu empfinden. Ob
dies ein Effekt ist, der Sinn macht bleibt fraglich. bw
Alina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tartarischen
Küche. Roman. 336 Seiten, Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2010 EUR 19,50
Eine Frau, die von einem alternden Patriarchen
nach Senegal gerufen wird und erfahren
muss, dass ihr Bruder für ein Verbrechen im Gefängnis
sitzt, das der Vater begangen hat. Ein
weißer Mann, der mit seiner senegalesischen Frau
und dem gemeinsamen Sohn in der französischen
Provinz in Schuld und Scham gefangen ist, die ihn
an ein Verbrechen seines Vaters binden. Eine junge
Afrikanerin, die auf dem quälenden Weg durch die
Sahara Richtung Europa um ihr Überleben und ihre
Würde kämpft, um körperlich verwüstet in der
Schönheit ihres inneren Seins am Grenzzaun zu
sterben.
Die drei Geschichten, die Marie NDiaye erzählt,
sind Geschichten von Menschen in der Falle. Sie
setzen dort an, wo sie sich ihrer Gefangenschaft bewusst
werden, die Kontur ihrer Falle begreifen und
beginnen, um einen Weg ins Freie zu ringen. Jede
der Geschichten rührt an einen Moment der Gewalt,
der in das Leben dieser Menschen gedrungen
ist. Das Böse kommt bei NDiaye sanft, unbeirrbar
und lächelnd in das Leben ihrer Charaktere.
„Drei starke Frauen“ erzählt von Verbindungen zwischen
Afrika und Europa, dem möglichen Glück,
das daraus wachsen kann und den Zäunen, die dagegen
errichtet werden. Es sind großartige Studien
der leisen, im Alltag oft nicht erkennbaren vernichtenden
Dynamiken, die durch Aggression und
Missachtung – ob sie nun innerhalb familiärer oder
politischer und gesellschaftlicher Strukturen geschehen
– in Gang gesetzt werden. Und Zeugnisse
der Kraft, die Menschen in sich und in anderen finden,
um diese Dynamiken zu unterbrechen.
NDiaye bringt sie in eine präzise, genau beobachtende
Sprache, beklemmend, berührend und so
spannend zu lesen wie ein Thriller. Ein Schatz von
einem Buch – kostbar, kunstvoll und wahr. Martina Kopf
Marie Ndiaye: Drei starke Frauen. Roman. Übersetzt
von Claudia Kalscheuer. 342 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin
2010 EUR 23,60
Momentaufnahmen im Leben von zwölf Frauen,
die in der flirrenden Hitze eines Wiener
Frühsommertages in der Kurzparkzone halten, hat
Sabine M. Gruber in diesem Episodenroman festgehalten:
knapp verpasste Möglichkeiten, schief gelaufene
Dates, vermasselte Chancen, Neuanfänge
und besondere Begegnungen. Grubers Interesse gilt
den gewöhnlichen Frauen und den alltäglichen Situationen.
Sie erzählt kurzweilig und sehr nahe an
ihren Figuren. Die große Sympathie der Autorin für
ihre Figuren machen diesen Erzählband zu einem
kurzweiligen Leseerlebnis, auch wenn einigen Episoden
die poetische Kraft fehlt und sie sprachlich
nicht überzeugen. jas
Sabine M. Gruber: Kurzparkzone. Erzählungen. 210
Seiten, Picus Verlag, Wien 2010 EUR 19,90
Obwohl die jungen Frauen Tolani und Rose
sehr unterschiedlich sind, werden sie enge
Freundinnen. Sie wohnen in der Megastadt Lagos
und versuchen ihr Leben zwischen Arbeit und Privatleben
zu meistern. Als Rose nach Auseinandersetzungen
mit ihrem Chef gefeuert wird, beginnen
die Ereignisse sich zu überschlagen. Während die
Ich-Erzählerin Tolani versucht, ihren Freund zu der
lang versprochenen Heirat zu bewegen, lässt sich
Rose auf einen mehr als zwielichtigen Mann ein,
der den Freundinnen vorschlägt, Drogen nach Europa
zu schmuggeln. Parallel wird die Lebensgeschichte
von Tolanis Mutter erzählt, welche eine
Generation vor ihrer Tochter auch versuchte, ihren
eigenen Weg zu gehen und dabei oft aneckte.
Atta beschreibt mit vielen kleinen Details das alltägliche
Leben in Lagos und wie es Frauen dort
zwischen der nach wie vor stark präsenten Machokultur
und der Suche nach dem privaten Glück ergehen
kann. Obwohl die Heldinnen dieser Geschichte
nicht der Unterschicht in Nigeria angehören,
studiert haben und einem seriösen Job
nachgehen, wandeln sie ständig am Rande des Existenzminimums.
Die Leserin taucht somit in das alltägliche
Leben einer der größten afrikanischen
Hauptstädte ein und bekommt ein sehr feines Gefühl
für die Lebensumstände dort. Indem Atta Bezug
auf die Geschichte der Mutter nimmt, zeigt sie
vor allem die Kontinuität des Kampfes der Frauen
in Nigeria um Freiheit und ein angemessenes Leben. Christa Kagelmacher
Sefi Atta: It´s my turn. Roman. Übersetzt von Eva Plorin.
270 Seiten, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2010
EUR 20,50
… und Wannabees: Die ehemals erfolgreiche
Schriftstellerin Mimosa Mein soll in der Jury
von „Die Schweiz sucht den SchreibStar“ mitwirken,
so das Setting des amüsanten Romans, der die
Mechanismen des Literaturbetriebs und die Auswüchse
von Castingshows aufs Korn nimmt; sich,
sehr autobiografisch getönt, mit Schreibschulen beschäftigt
und auch ein durchaus treffsicheres Porträt
einer Frau in mittleren Jahren bietet: wie diese
Sex und Liebe organisiert, wie sie mit ihrer besten
Freundin umgeht etc. Wiewohl die TeilnehmerInnen
der Castingshow – durchaus beabsichtigt –
Prototypen aus der Beratungsliteratur entsprechen,
liest sich der Roman unterhaltsam und das Amüsement
über die typischen Eigenheiten der Figuren
stellt sich auch bei sonstiger Resistenz gegen „Unterhaltsungsliteratur
weiblich“ ein. Das milde
Lächeln über die Eskapaden der hoffnungsvollen
Möchtegern-SchriftstellerInnen verfeinert sicher so
manchen Winterabend … HW
Milena Moser: Möchtegern. Roman. 455 Seiten, Nagel
& Kimche, Zürich 2010 EUR 20,50
Die Krimiautorin Susanne wurde ausgewählt,
als „kreativer Part“ an einer interdisziplinären
Expedition ins Polarmeer teilzunehmen. Zwar gibt
es auch dort über Satellit Verbindung zur modernen,
virtuellen Welt, in der realen Welt ist der Eisbrecher
den Kräften der Natur aber völlig ausgeliefert.
Ausgeliefert ist auch Susanne, einerseits ihrer
Vergangenheit als ungeliebtes Kind, das immer im
Schatten seines Cousins Björn stand, dessen charmante
Art ihn in den 1960ern sogar zu einem Popsternchen
machte; andererseits sieht sie sich einer
unheimlichen physischen Bedrohung gegenüber,
als sie feststellt, dass irgendjemand wiederholt in
ihre Kabine einbricht. In vielen Rückblenden werden
Susannes Familiengeschichte, die Geschichte
ihrer Mutter Inez und deren Zwillingsschwester Elsie
und ein Geheimnis um Björn entwirrt, bis es
ganz zum Ende zum großen Showdown im Polarmeer
kommt, der für Susanne zur Entscheidung
um alles oder nichts wird.
Wie immer großartig sind Majgull Axelssons Figuren,
deren Schicksale auch in die nächste Generation
nachwirken. Zusätzlich faszinierende Natur,
atemlose Spannung und Überlebenskampf im realen
wie übertragenen Sinn. Und obwohl „Eis und
Wasser“ nicht ganz an die überwältigende Erzählkraft
früherer Romane heranreicht, ist er ein absolutes
Muss in dieser Saison. ESt
Majgull Axelsson: Eis und Wasser, Wasser und Eis.
Roman. Übersetzt von Christel Hildebrandt. 544 Seiten, C.
Bertelsmann, München 2010 EUR 23,70
Die Kellnerin Anna, eine zarte und verschlossene
junge Frau, ist am Unfalltod ihrer Schwester
zerbrochen. Verloren in einer kindlichen Bilderwelt
von Engeln und Teufeln entwickelt sie
selbstzerstörerische Tendenzen. Als Anna den Fotografen
Herbert kennen lernt, beginnt eine vorsichtige
Liebesgeschichte. Doch Annas Depressionen
überfordern Herbert und verunmöglichen eine
glückliche Beziehung. Nach einer gemeinsamen
Bergtour versucht Anna sich umzubringen.
Schutti verwendet schlichte Sätze, starke Symbolik
und die Schilderung der Geschichte aus unterschiedlichen
Perspektiven, um Annas unzugängliche
Gedankenwelt und tiefe Verstörung zu illustrieren.
Als Anna erstmals auf den letzten paar Seiten
selbst zu Wort kommt, bleibt offen, ob sie jemals
wieder in der Gegenwart ankommen wird.
Ein Debüt, das zu den leisen und unauffälligen
Büchern in der Herbstproduktion zählt, weniger
Roman, wie das Cover suggeriert, eher eine stille
Erzählung, die mit Präzision und genauer Beobachtung
aufwarten kann. jas
Carolina Schutti: Wer getragen wird, braucht keine
Schuhe. Roman. 120 Seiten, Otto Müller Verlag, Salzburg
2010 EUR 17,–
Das Unglück kommt immer mindestens zweimal
hintereinander. Im Gegenteil zum Glück,
das meistens nur einmal kommt. Unglück kennt Josefine
Bartok, genannt Josi, als Psychiaterin zur
Genüge. In ihrem eigenen Fall heißt das Unglück
Krebs und zwei kreuzförmige Narben, dort wo einmal
die Brüste waren. Das Unglück heißt, dass der
Ex-Ehemann nach 20 Jahren Ehe im ehemals gemeinsamen
Haus mit einem anderen Mann lebt.
Das Glück kann manchmal Max heißen, in jedem
Fall aber heißt es Paula.
Paula ist die 12-jährige Tochter des Schriftstellers
Michael Köhlmeier, die Josi kennen lernt, als sie in
Griechenland an einem Erzählkreis teilnimmt, bei
dem Köhlmeier griechische Sagen vorträgt. Paula,
die Josi besser zu kennen scheint, als sie sich selbst,
die ungewöhnlich weise ist für ihr Alter, bedeutet
einen Wendepunk für Josi, die beschlossen hatte,
sich in Griechenland, wohin sie ihre beiden Kinder
Bruno und Karla sowie ihr Exmann und dessen
Freund geschickt hatten, als zarter Herr im Anzug
neu zu erfinden und ihr Unglück selbst in die Hand
zu nehmen.
Schonungslos, aber nicht ohne Ironie erzählt Helfer
von Verlust, Mut und einer ungewöhnlichen
Freundschaft und setzt gleichzeitig ihrer früh verstorbenen
Tochter Paula ein literarisches Denkmal. vab
Monika Helfer. Bevor ich schlafen kann. Roman. 224
Seiten, Deuticke, Wien 2010 EUR 18,40
Das Buch über eine ungarisch-serbische Familie,
die in einem mondänen Dorf an der Zürcher
Goldküste Fuß zu fassen versucht, ist einer der
wichtigsten Romane des Herbstes geworden. Melinda
Nadj Abonji hat im Oktober für ihren autobiografisch
grundierten Roman „Tauben fliegen
auf“ den Deutschen Buchpreis erhalten. Erstmals
ging dieser somit an eine Autorin aus der Schweiz
und – noch bemerkenswerter – an eine Autorin, deren
Erstsprache nicht Deutsch ist. Das ist jedenfalls
schon ein guter Grund, sich die wechselvolle Geschichte
der Familie Kocsis erzählen zu lassen. Die
Sprache des Romans, die langen und atemlosen
Sätze, die für die Komplexität von Identität und Migration,
das Pendeln und Sich-Verlieren zwischen
Serbien, Ungarn und der Schweiz stehen, ein weiterer. jas
Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf. Roman.
317 Seiten, Jung und Jung, Salzburg 2010 EUR 22,–
Italien, 1956: Amara, eine junge Journalistin,
fährt mit dem Zug zur Recherche nach
Auschwitz. Seit 1943 ist ihr Freund und ihre große
Liebe Emanuele verschwunden. Einzige Hinweise
auf der Suche sind die Briefe, die er ihr immer, zuerst
aus Wien, in das seine Familie trotz der Nazis
1938 zurückgekehrt war, und dann aus dem Ghetto
von Lódz geschickt hat. Auf ihren Irrfahrten lernt
sie bald einen Mann kennen, der ihr bei der Suche
helfen will. Ihre ziel- und planlosen Recherchen
führen sie nach Wien und nach Budapest, wo sie
Zeugin des Ungarischen Volksaufstands wird, und
dann wieder nach Wien zu bitteren Wahrheiten.
Marainis Roman kann als Kommentar zu den Folgen
des Nationalsozialismus und des Krieges gelesen
werden, wohl nicht als historischer Roman.
Manche Rezensentin sah die Figuren als „Metaphern,
die komplexe historische Zusammenhänge
illustrieren und als Darstellung der surrealen Dimension
des Holocausts“ (Isabella Pohl im „Standard“
vom 30.9.2010). Mir erscheint der Roman
eher ein missglückter Thesenroman mit blassen,
leblosen Figuren – schade! HW
Dacia Maraini: Der Zug in die jüngste Nacht. Roman.
Übersetzt von Eva-Marie Wagner. 479 Seiten, Piper Verlag,
München 2010 EUR 23,60
Es ist die Suche nach Glück, die Lále nicht aufgeben
und immer wieder ihr Schicksal herausfordern
lässt. Doch mehr noch als glücklich will sie
selbstständig sein, was das Leben einer Frau bekanntlich
nicht immer einfacher macht. Als sie von
Pavel schwanger wird, entschließt sie sich zu einer
Abtreibung. Um dann später unbedingt ein Kind zu
bekommen, heiratet die Ungarin den Deutschen Pit
und damit in eine deutsche Familie ein: „Um ihr
Entsetzen abzuschwächen, weil niemand außer ihr
entsetzt zu sein schien, beschloss Lále, alles Alarmierende
zu übersehen.“ Sie stößt auf Unverständnis,
sogar auf Ablehnung. Lále beginnt nach einem
Ausweg zu suchen.
Léda Forgós zweiter Roman „Vom Ausbleiben der
Schönheit“– nach ihrem Debüt „Der Körper meines
Bruders“ – trifft den Nerv der Zeit: Einfühlsam und
berührend erzählt sie die Geschichte einer jungen
Frau, deren steter Kampf um Eigenständigkeit und
Individualität das Leben bestimmt. Tiefgründig
zeichnet sie die widersprüchliche Figur der Protagonistin
Lále. Die in Berlin lebende Autorin, die
von sich selbst sagt, sie sei „Ungarin“, aber „deutsche
Schriftstellerin“, schreibt mit einer präzisen
und eigenwilligen Sprache – daraus könnte auch
die späte Aneignung des Deutschen als Schriftsprache
abzulesen sein. Poetisch und lebendig erscheinen
die interessanten sprachlichen „Brüche“. So ist
Léda Forgó mit diesem Buch ein literarisches
Kunstwerk geglückt! Gudrun Magele
Léda Forgó: Vom Ausbleiben der Schönheit. Roman.
254 Seiten, Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2010 EUR 20,60
Dort, wo herkömmliche Familienromane enden,
beginnt Reitzers Roman: Ein Familienfest
eröffnet die Szenerie, an Stelle der Zusammenführung
steht allerdings die Auflösung einer Familie.
Gleich darauf übernimmt Reitzer konsequent
das Thema der Auflösung auch formal. In lose verbundenen
Skizzen, die stilistisch die prekären Arbeitsverhältnisse
der Protagoist_innen illustrieren,
und ohne chronologische Gefälligkeiten wird von
der Generation 30+ erzählt, die von „Unterrichten
über Massieren bis zur Homepage-Gestaltung
schon alles probiert hat“. Die Kulturarbeiter_innen
und Netzwerker_innen des Romans sind auch nach
vielen Jahren des Freelancens nicht angekommen,
noch immer sind sie mit unverbindlichen Meetings,
flüchtigen Bekanntschaften und mittelfristigen Projekten
beschäftigt. Die Sehnsucht nach Bedeutendem
blitzt nur selten durch, etwa, als sich im Hintergrund
der Erzählungen Uniproteste formieren
und eine der Protagonist_innen das Treiben im Audimax
beobachtet.
Ein komplexes Gesellschaftspanorama, das eindrucksvoll
die Frage stellt, was mit denen geschieht,
die sich von den omnipräsenten Netzwerken
der neoliberalen Gegenwart nicht aufgefangen
fühlen. jas
Angelika Reitzer: Unter uns. Roman. 279 Seiten, Residenz
Verlag, St. Pölten/Salzburg 2010 EUR 21,90
„Ich schreibe Prosa, auf der Meta Ebene
schreibe ich Gedichte: 1 Phänomen.“ Und
manchmal werden es dann eben zweihundertdreiundvierzig
Fußnoten. Mayröcker schafft sich damit
geschickt einen Rahmen für eine Reihe scheinbar
assoziativer Texte, die sich zum Teil wie Tagebucheinträge
lesen. Der alternde Körper hat darin
seinen festen Platz, die nicht mehr zu ignorierenden
Verfallserscheinungen drängeln sich nörgelnd
in den Vordergrund des Alltags, wie etwa „der eigene
Geruch am Morgen im Bett nach dem Erwachen,
stallartig“. Da ist es schon tröstlich, sich an
vergangene Zeiten zu erinnern, an die Mutter, die
eigene Kindheit und an den Gefährten Jandl, was
letztendlich aber auch hervorhebt, dass sich das
Alter auch nach Abwesenheiten anfühlt und einen
Geschmack von Einsamkeit zurücklässt. Mit ihren
Fußnoten erlaubt sich Mayröcker eine sehr persönliche,
sehr ehrliche Bauchnabelschau, ohne aus
den Augen zu verlieren, dass die absolute Entschlüsselung
des eigenen Selbst ein Ding der Unmöglichkeit
ist. Lisbeth Blume
Friederike Mayröcker: ich bin in der Anstalt. Fusznoten
zu einem nichtgeschriebenen Werk. Prosa. 190 Seiten,
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010 EUR 20,40
Als sich Clara und Henry kurz nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs kennen lernen, ist es
für beide die große Liebe. Henry hat soeben seine
Ausbildung als Berufssoldat abgeschlossen und will
sich im Einsatz für das Empire beweisen. Als er
1956 nach Zypern versetzt wird, folgt ihm Clara
mit den einjährigen Zwillingstöchtern. Doch was
ein „Sonnenschein-Kommando“ zu sein scheint,
wird bald bitterer Ernst: Es ist die Zeit der griechisch-
zypriotischen Freiheitskämpfe gegen die
britische Kolonialmacht. Henry erkennt, dass seine
naive Sichtweise von „recht und richtig“ nicht mehr
mit der Realität übereinstimmt. In diesem schmerzhaften
Prozess wird er seiner geliebten Ehefrau immer
fremder. Clara fühlt sich einsam und alleingelassen.
Sadie Jones beschreibt in diesem hervorragend recherchierten
Buch eine Ehe vor dem Hintergrund
eines politisch interessanten Abschnitts europäischer
Geschichte. Die englische Autorin lässt die
hochbrisante Atmosphäre der fünfziger Jahre lebendig
werden. Zugleich zeichnet sie detailreich
und leidenschaftlich die langsame Veränderung der
beiden Hauptfiguren und ihrer Beziehung zueinander
auf: Es geht um innere und äußere Verletzungen,
um Gewalt, um Entfremdung, vor allem aber
um die große Kraft der Liebe. Sadie Jones (und ihre
Übersetzerin Brigitte Walitzek) schafft es, von der
ersten Seite an eine immense Spannung aufzubauen
und die Leserin in einen enormen Sog zu ziehen:
Dieser Roman ist „packend“ erzählt, ohne je reißerisch
zu sein – grandios! Gudrun Magele
Sadie Jones: Kleine Kriege. Roman. Übersetzt von Brigitte
Walitzek. 448 Seiten, Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt/
Main 2010 EUR 23,60